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Ess-Manieren.
Etikette und Abweichung

Nische Tischsitten

Das geheime Wirken der Dinge. Esskulturen – eine forschende Ausstellung
Blick in die Nische „Tischsitten “, Landesmuseum Koblenz, Oktober 2020
Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE

„Kultur ist, wenn man mit Serviette isst und trotzdem nicht schlabbert.“

Dieser Satz einer Neunjährigen trifft den Kern der Tischsitten. In allen Kulturen wird die Nahrungsaufnahme einer sozialen Kontrolle unterworfen. Um von der Tischgemeinschaft akzeptiert zu werden, muss man die jeweils gültigen Regeln und Techniken erlernen: den Gebrauch des Bestecks, die Handhabung der Gefäße, die anständige Körperhaltung und natürlich auch das manierliche Kauen und Schlucken.

Scham und Ekel verankern Essmanieren schon im Kindesalter. Wer sie nicht beherrscht, muss am Katzentisch essen.

Serviettenring

Serviettenring

Serviettenring, Französisch-Perl, Robbe & Berking, Flensburg,
Edelstahl, Silber, nach 1978
Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
Inv. Nr. D.01.20, Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE

Der Gebrauch von Tüchern, die bei Mahlzeiten zum Reinigen von Mund und Händen verwendet wurden, ist bereits für die Antike dokumentiert. Strengere Tischsitten und Hygieneregeln führen seit dem 18. Jahrhundert zu einer zunehmenden Reinlichkeit vor und während des Essens. Serviettenringe finden seit dem bürgerlichen Zeitalter Verwendung. Die Serviette wird kaum noch beschmutzt und kann wiederverwendet werden – natürlich immer von derselben Person. Der Serviettenring dient nicht zuletzt dazu, das entsprechende Mundtuch wiederzufinden.

Serviettenringe – Objekte bürgerlicher Initiation

Serviettenring Bild Nr. 1

Claude Monet, Le Déjeuner (Detail), 1868, Öl auf Leinwand, 230 x 150 cm
Städel Museum, Frankfurt am Main,
Foto: Städel Museum – ARTOTHEK

Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts propagieren dennoch Autoren von Benimmbüchern den regelmäßigen Gebrauch von Servietten auch für Alltagsmahlzeiten am einfachsten Familientisch, schon weil er für die Erziehung der Kinder zu anständigem Benehmen unentbehrlich sei. Die Verwendung von Serviettenringen bildet dabei ein wichtiges Hilfsmittel zur Aneignung eines kulturellen Habitus. Im bürgerlichen Alltag lernen die Kinder von klein auf damit umzugehen.

 

aus: Petra Habrock-Henrich, Der Serviettenring. Funktionsbesteckteil mit Symbolkraft, Dekorations- und Sammlungsobjekt, Bulletin Esskulturen, Mappe III, Ess-Manieren, Faszikel 13.

Messerbänkchen & Co

Messerbänkchen

Messerbänkchen, Projektausstellung Das geheime Wirken der Dinge. Esskulturen – eine forschende Ausstellung
Deutsche Stiftung Denkmalschutz: Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE

Wozu ein Serviettenring dient, erlernt man noch heute in einigen bürgerlichen Familien. Aber wer weiß schon, mit welchen Messern welcher Käse geschnitten wird? Oder wie man richtig mit einem Messerbänkchen umgeht? Es soll verhindern, dass das benutzte Messer mit der Tischdecke in Berührung kommt und diese beschmutzt.

So gibt es zahlreiche Objekte in der gehobenen Tischkultur, die mit den Tischmanieren eng verbunden sind. Der richtige Umgang mit ihnen beweist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, die sich diese Regeln auferlegt hat.

Soziologische Herleitungen

Nichts an den Verhaltensweisen bei Tisch ist schlechthin selbstverständlich, gleichsam als Produkt eines ‚natürlichen’ Peinlichkeitsgefühls. Weder Löffel noch Gabel oder Serviette werden einfach, wie ein technisches Gerät, mit klar erkennbarem Zweck und deutlicher Gebrauchsanweisung eines Tages von einem Einzelnen erfunden; sondern durch Jahrhunderte wird unmittelbar im gesellschaftlichen Verkehr und Gebrauch allmählich ihre Funktion umgrenzt, ihre Form gesucht und gefestigt.

Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1, Frankfurt/ Main, 1976, 144f.

Man benimmt sich beim Essen nicht deshalb gut, weil man dann besser essen kann, sondern weil man dazugehören will! Und all die Gefühle, die man befürchtet, wenn man sich daneben benommen hat oder wenn andere sich daneben benehmen – Scham, Ekel, Peinlichkeit, Fremdschämen – sind nur Hilfen, die wir intern ausgebildet haben, damit wir es leichter haben, zu bestimmten Gruppen dazuzugehören, sozusagen ein Trick der Gesellschaft, um das Individuum mit seinen ganz persönlichen Gelüsten und unkalkulierbaren Anwandlungen zu kontrollieren.

Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln,
Frankfurt/ New York, 2020, 169.

Tischmanieren sind ebenso aussagekräftig wie die Art und Sorgfalt der Kleidung. […] Sie sagen viel über Erziehung, Elternhaus und über soziales Herkommen aus, aber auch über Disziplin und Lernbereitschaft. Vielen Beobachtern wird nicht auffallen, wenn Sie als Mann nicht auf der richtigen Seite einer Dame oder Ihres Chefs gehen oder dass Sie sich und andere bei der Begrüßung nicht richtig vorstellen. Schlechte Tischmanieren hingegen sind deutlich sichtbar und hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck.
Manche Gäste wollen in der Handhabung des Bestecks besonders kenntnisreich erscheinen und nehmen beide Teile des Vorlegbestecks in eine Hand, um sich Fleisch und Beilagen wie mit einer Zange auf den Teller zu legen. Das ist aber verpönt: Die virtuose Handhabung zweier Besteckteile in einer Hand ist den Kellnern vorbehalten; Gäste zeigen damit die falsche Professionalität.

Wolfgang Schultheiß, Umgangsformen. Protokoll und Etikette. Privat und im Beruf, Berlin, 2019, 131, 134.

Aristokratische Tischmanieren

dinner_for_one

Mulligatawny soup, Schellfisch, Huhn und Obst, dazu Sherry extra dry, reichlich Weißwein, Champagner und Portwein – Butler James (Freddy Frinton) muss den längst schon verblichenen Gästen seiner Herrschaft (Mary Warden) ein Festessen zum 90. Geburtstage auftragen. Vor allem aber muss er stellvertretend für die Ab- und Verwesenden auf Lady Sophies Wohl prosten … Kein Wunder, dass dabei nicht nur die steifen aristokratischen Tischsitten etwas ins Wanken geraten. Same procedure as last year? Same procedure as every year!

Dinner for one, NDR, 1963, Monitorbild (05:34), Videopräsentation im Rahmen der Projektausstellung
Das geheime Wirken der Dinge. Esskulturen – eine forschende Ausstellung,
Landesmuseum Koblenz,
Oktober 2020
Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE


Mittelalterliche Tischzuchten

Digital Camera

Wandgemälde, Ratskeller Wismar, 15. Jahrhundert
Foto: Albrecht Classen

Um über den Erwartungshorizont der Teilnehmer an solchen hochpolitischen Festen mehr zu erfahren, müssen wir uns der Gattung Tischzuchten zuwenden […]. Der konvertierte Jude Petrus Alfonsi (geb. 1062), Leibarzt von König Alfons VI. von Aragon, schloss eine Reihe von Verhaltensregeln am Hof in seine didaktische Sammlung von Fabeln Disciplina clericalis (Anfang 12. Jh.) ein. Auch hier soll man beim Mahl nicht sofort anfangen, Brot zu essen, denn eine Person, die den ersten Gang nicht ab- warten könne, würde als gierig angesehen. Ferner solle man nicht zu große Stücke in den Mund nehmen, damit nicht Krümel links und rechts abfallen. Auch müsse man das Essen gut kauen und nicht einfach hinunterschlucken. Zum Wein greife man erst, wenn der Mund leer sei. Sprechen mit vollem Mund bedeute grobes Fehlverhalten. […] Gleichermaßen detailliert äußert sich auch die Tannhäuser (Mitte des 13. Jh.) zugeschriebene Hofzucht, die sehr konkret anrät, die abgenagten Knochen nicht zurück in die Schüssel zu legen, nicht mit dem Finger in den Senf oder die Soße zu tauchen, nicht in das Tischtuch oder in die Hand zu schnäuzen, sich nicht während des Essens zum Schlafen auf den Tisch zu legen, sich mit bloßer Hand nicht an der Kehle zu kratzen und beim Kauen nicht zugleich auch zu trinken.

aus: Albrecht Classen, Tischzuchten und höfisches Verhalten im Mittelalter, Bulletin Esskulturen, Mappe III, Ess-Manieren, Faszikel 15.