Mahl-Zeiten.
Chronometrie und Störung
Das geheime Wirken der Dinge. Esskulturen – eine forschende Ausstellung
Blick in die Nische „Mahl-Zeiten “, Landesmuseum Koblenz, Oktober 2020
Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE
In vielen Kulturen strukturieren Mahlzeiten Tages- und Arbeitsabläufe. So gab es in Teilen Europas ein erstes und ein zweites Frühstück, ein Mittagessen gegen Ende des Arbeitstages sowie ein Nachtessen am späteren Abend.
Die Uhrzeiten, zu denen man sich zum Mittag- oder Abendessen versammelte, waren früher streng geregelt. Es wurde erwartet, dass man pünktlich zum Essen erschien.
Das Verhältnis von Uhr- und Mahlzeiten ist in unserer heutigen Gesellschaft flexibel geworden. In manchen Betrieben gibt es keine geregelte Mittagspause. Man isst, wann immer man Hunger verspürt, am Arbeitsplatz, im Büro, an einem Imbissstand oder im Gehen.
Konsolenuhr
Chinoise Konsolenuhr/ Kaminuhr, nach 1845, Michel-Isaac Aaron,
Chantilly, Porzellan, bemalt
Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE
Im 18. Jahrhundert findet die Chinamode in Europa ihren Höhepunkt. „Chinois“ steht dabei ganz allgemein für Exotika, die im Zuge des Kolonialismus zunehmend Verbreitung finden und häufig imitiert werden. Auch im 19. Jahrhundert sind diese Produkte meistens von einer romantisierenden Sichtweise bestimmt. Vorzugsweise wird ein anspruchsloses und genügsames Leben im Einklang mit der Natur thematisiert. Die Konsolenuhr verbindet die Vorstellung einer ‚fließenden’ Zeit mit dem üblichen Ziffernblatt. Pflanzen und Tiere im Porzellandekor ergänzen den Bezug zur ‚Natürlichkeit’.
Kulinarische Leiden eines Missionars
Der chinesische Kaiser kennt europäische Uhren, doch hat er noch nie einen künstlichen Springbrunnen gesehen. Nachdem er auf einer Illustration eines jener Wasserspiele erblickt hat, die so häufig die Vor- oder Rückseiten europäischer Barockpaläste zieren, befiehlt er den Jesuitenmissionaren, etwas Vergleichbares zu konstruieren. Für die technischen Belange soll Pater Benoist verantwortlich zeichnen, der als Astronom und Mathematiker allerdings nur wenig von Brunnenbau versteht. (…) So entstehen in einem eingefriedeten Bereich im Osten des Sommerpalasts die Xi Yang Lou, die „Westlichen Paläste“. Ausgangs- und Zielpunkt dieser umfangreichen architektonischen européerie sind die Fontänen und Wasserbecken. Das Kernstück der gesamten Anlage bildet der „Palast des ruhigen Meeres“.
Haiyantang, Palast des ruhigen Meeres, von Westen aus gesehen, um 1783, Nr. 10 einer Serie von 19 Kupferstichen des Yuanmingyuan (alter Sommerpalast) Beijing, 60 x 95 cm.
Foto: Marion Steinicke
Die Planungen, die Entwürfe, die Konstruktion der Springbrunnenanlage, die schwierige Kommunikation mit den chinesischen Arbeitern, die Intrigen der Hofleute, vor allem aber die Angst, den Forderungen des Kaisers nicht Genüge zu tun, lassen das Leben von Pater Benoist im Sommerpalast alles andere als idyllisch erscheinen. Beständig ist er in Eile, in Hast, in Sorge. (…) Der Pater verzehrt sich buchstäblich, und daran sind nicht zuletzt seine Mahlzeiten schuld, genauer: die Anstrengungen, dorthin zu gelangen, wo sie für ihn bereitstehen. Denn die Speisen werden dem Pater nicht gebracht, sie folgen ihm nicht nach, er muss sie aufsuchen. „Wahrlich ermüdend“ sei es für den Missionar gewesen, während der Arbeiten an den „Westlichen Palästen“ sich rechtzeitig an die vorgesehenen Orte seiner Mahlzeiten zu begeben. Zwar habe der Kaiser ihm „häufig Speisen von seiner Tafel“ geschickt, zweifellos eine besondere Ehre, die aber nichts daran ändert, dass die von dem aufopfernden Dienst für den rechten Glauben ohnehin bereits beeinträchtigte Gesundheit des Paters Benoist durch das strenge Fasten und die unregelmäßigen Essenszeiten zusätzlich geschwächt wird. So heißt es zumindest in dem anonymen Nachruf, der nach dem Ableben des Paters 1775 die vielfältigen Beschwernisse der China-Mission auch als ein konkretes esskulturelles Problem resümiert.
aus: Marion Steinicke, Die Zeit, die Uhren und die Speisen des Kaisers. Nachrichten aus dem Reich der Mitte, in: Bulletin Esskulturen, Mappe VI, Mahl-Zeiten, Faszikel 34.
Still(e)Zeiten
Kohleskizze nach einem Filmstandbild aus Le Repas de Bébé (1895) von Louis Lumière
Zeichnung: Marion Steinicke
Auszug aus einem Interview
(Während des gesamten Interviews spielt Mini im Hintergrund und isst genüsslich den einen oder anderen Keks mit Schokolade.)
Wie sieht euer Alltag aus und spielt Essen da eine Rolle?
Eine große Rolle. Im Alltag stehen wir früh auf. Mein Wecker geht so um halb sechs/Viertel nach sechs, dann mach ich mich fertig und um sechs Uhr/Viertel nach sechs meldet sich Mini. Dann bekommt er als erstes nochmal eine Milch. Der steht immer noch auf seine Milch. Und dann machen wir uns fertig. Maxi frühstückt nicht bei uns. Wir machen aber sein Brot fertig für die Kita. Und da bekommt der um 11:30 Uhr/12 Uhr Mittagessen. Das ist uns wichtig: eine warme Mahlzeit schon mal um 12:00 Uhr für Maxi. Abends wird dann noch einmal gekocht, wenn ich von der Arbeit komme. Uns ist einfach wichtig, dass wir nochmal zusammen als Familie am Tisch sitzen und gemeinsam essen.
Und inwiefern war das Stillen vereinbar mit euren Essenszeiten?
Gar nicht. Es war immer so, und als ich dann abgestillt und mehr Flasche gegeben habe, da war es auch noch so: zum Beispiel, wenn du irgendwo essen warst, weil man sich sagt ‚hey, jetzt möchte ich mal raus, was anderes essen‘, dann war es immer so, dass mein Essen auf dem Tisch stand und pünktlich hat das Kind sich gemeldet. Hunger. Milch.
aus: Ina Tanita Burda, Stillen – Zeit – Essen. Mahl-Zeiten zwischen Struktur und Störung, Bulletin Esskulturen, Mappe VI, Mahl-Zeiten, Faszikel 32.
Essen auf Reisen
A limited express, „Five seconds for Refreshments“!, Lithograph Cartoon, 1884
Unser Alltags- und Berufsleben verlangt immer häufiger, dass wir auf Reisen sind: sei es die nächste Geschäftsreise, die Klassenfahrt oder die lang erwartete Urlaubstour. Ort und Uhrzeit der Mahlzeit hängen weniger davon ab, was wir uns wünschen, als vielmehr davon, wie es am besten in den Tagesablauf oder Reiseplan passt. Das ist keineswegs eine neue Entwicklung. Wann immer die Menschen gereist sind, mussten sie ihre Essensgewohnheiten aufgeben. Die Anpassung an andere Essenszeiten konnte und kann noch heute Reisende unter Umständen in arge Bedrängnis bringen.
Kulinarisches Kino –
ein online-Gespräch zwischen Thomas Struck und Andreas Ackermann
im Rahmen des 2Rivers Ethnographic Film Festival, Juni 2020