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Tisch-Ordnungen.
Hierarchisierung und Egalisierung

Tisch-Ordnungen Nische

Das geheime Wirken der Dinge. Esskulturen – eine forschende Ausstellung
Blick in die Nische „Tisch-Ordnungen “, Landesmuseum Koblenz, Oktober 2020
Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz
Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE

 

Tischordnungen sind mit Prestigefragen verbunden. Sie bilden gesellschaftliche Hierarchien ab oder heben diese auf.

Der Platz an der Stirnseite oder zentral an der Längsseite einer Tafel ist zumeist dem Gastgeber oder aber dem Gast mit dem höchsten Ansehen vorbehalten. Nähe oder Distanz zu ihm bestimmen die Rangordnung der Gäste.

An runden Tischen scheint es nur gleichartige Positionen zu geben. Aber auch hier sind Abstufungen möglich. Wer auf die Tür schauen kann, nimmt den höchsten Rang ein. Selbst die Art der Bestuhlung lässt soziale Unterschiede erkennen. Gedeck und Menühalter sind für alle Tischgäste gleich.

Tisch- und Menükarten

Menükartenhalter

Menükartenhalter, um 1900, Porzellan
Deutsche Stiftung Denkmalschutz: Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
Inv.Nr. D.314.17, Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE

Tisch- und Menükarten erfreuten sich in bürgerlichen Haushalten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Beide Utensilien schaffen Ordnung bei Tisch und auf dem Tisch: Tischkarten zeigen an, wo jemand sitzt und welchen Status er/sie innerhalb der Tischgemeinschaft einnimmt, Menükarten sagen voraus, welche Speisen auf den Tisch kommen und in welcher Reihenfolge sie serviert werden. Manchmal erfüllen Vorder- und Rückseite derselben Karte beide Funktionen. Farbe und Dekor der Karten richten sich häufig nach dem Geschlecht der eingeladenen Person. Die Damen treten oft nur als „Gattin von“ in Erscheinung.

             Tisch- und Menükarten der Sammlung Poignard

Kartenhalter weisen eine große Vielfalt an Formen und Materialien auf. In der Sammlung Alex Poignard finden sich zahlreiche Exemplare. Sie reichen von schlichten, sorgfältig von Hand beschrifteten Porzellantafeln bis hin zu künstlerisch gestaltetem Tischdekor, der Auskunft über den Geschmack der Zeit und auch der Gastgeber gibt.

Tischkartenhalter der Sammlung Poignard
Fotos: Ulrich Pfeuffer, GDKE

Christus als Tischherr

Foto Cranach Reformationsaltar

Lukas Cranach d. Jüngere und Werkstatt, Reformationsaltar,
Mitteltafel, um 1530
Stadt- und Pfarrkirche St. Marien, Wittenberg
Foto © Siegfried Hermle

Das Abendmahlsbild von Lukas Cranach d. J. (1515-1586) versammelt die Jünger Jesu um einen runden Tisch, um ihre Gleichrangigkeit anzudeuten. Einige von ihnen tragen die Züge prominenter Reformatoren (rechts unten Martin Luther).

Der Verräter Judas ist durch sein auffälliges gelbes Gewand und durch den Geldbeutel gekennzeichnet. Er sitzt am äußersten Rand der Sitzbank. Deutlich ist zu erkennen, dass er die Tischgemeinschaft schon bald verlassen wird. Christus ist im geistlichen wie im realen Sinn Dominus, Hausherr und Gastgeber. Er sitzt auf einem eigenen Podest. Seine hervorgehobene Position am linken Bildrand betont die Leserichtung und könnte damit auf die Bedeutung der Heiligen Schrift verweisen.

Antike Festmähler

Bankettszene Stibadium Rumänien

Bankettszene im Stibadium aus dem Bankettgrab, Constanza (Rumänien), Mitte 4. Jh. n. Chr.
Abb. in: N.F. Hudson, The Archaeology of the Roman Convivium, AJA 114 (2010), 665, ©A. Barbet.

In der Antike wurden Festmähler in Räumen veranstaltet, die mit Triklinien (fest gemauerte gepolsterte Liegen in Hufeisenform) oder Stibadien ausgestaltet waren, die auch für die neutestamentliche Zeit vorauszusetzen sind (vgl. Lk 22,13-14). Zum Gastmahl trafen sich Bürger der gehobenen Gesellschaft. Die Speisen wurden von Dienern oder Sklaven auf beweglichen Tabletts serviert. 

Zumindest im griechischen Kulturraum wurden Gastmähler nur von Männern besucht. Im römischen Kulturraum nahmen Frauen und Kinder anfangs auf Schemeln sitzend am Mahl teil.

Die streng festgelegte Rangordnung unter den Tischgästen bedurfte keiner Tischkarte oder weiterer Markierung, weil sie strenger gesellschaftlicher Konvention bezüglich der sozialen Stufung der Teilnehmer unterlag.

Sitzordnung und Gesellschaftsutopie

Thanksgiving

Thomas Nast, Uncle Sam’s Thanksgiving Dinner, Holzstich
Illustration in: Harper’s Weekly (1869, Nov. 20), 745
Courtesy of Library of Congress

Tischordnungen sind kulturell an Gender, sozialem Status und ethnischer Zugehörigkeit ausgerichtet. Das Aushebeln der konventionellen Tischordnung findet sich häufig in Romanen und anderen Medien in den USA des 19. Jahrhunderts. Der Karikaturist Thomas Nast versammelt in Uncle Sam’s Thanksgiving Dinner erstmals Menschen an einem Tisch, die nach Herkunft, Geschlecht, religiöser Zugehörigkeit und Hautfarbe verschieden sind. Der Gastgeber steht am rechten Bildrand und schneidet den traditionellen Truthahn für seine Gäste an. Ihm gegenüber sitzt Lady Columbia, einem chinesischen Herrn zugewandt. Auf den Wandgemälden erinnern Abraham Lincoln, George Washington und Ulysses S. Grant an den Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen.

esskulturen_nms (4)

Die Festtafel
aus: M. Erhardt/ A. Maths, Großes Illustriertes Kochbuch, 1911, 546

Tisch-(Un)Ordnungen

Die Tischszene eröffnet den Roman des afro-amerikanischen Schriftstellers Frank Johnson Webb, der 1857 in London publiziert wurde. Er (…) zeichnet das Schicksal zweier Familien nach, der Garies, die aus dem Süden nach Philadelphia umsiedeln, und der Ellis Familie, die bereits dort lebt. Im Rückgriff auf das Genre der domestic bzw. der sentimental novel konzentriert Webb sich dabei u.a. auf Häuser und ihre Innenräume, die domestic spaces der freien Afro-Amerikaner, und zeigt im Detail deren Lebensstil. (…)
Liest man weiter, so wird klar, dass neben dem Plantagenbesitzer Mr. Garie auch seine Kinder sowie deren Mutter sitzen, eine „a lady of marked beauty“, die er auf einer Sklavenauktion erstanden hat. (…) Der üblichen patriarchalen Sitzordnung entsprechend sitzt Mr. Garie am Kopf des Tisches (…). „Opposite to him, and presiding at the tea-tray“ sitzt Mrs. Garie. Traditionellerweise entspricht der von ihr eingenommene Platz dem der (weißen) Dame des Hauses, eine hierarchische Anordnung, die durch ihren Status als Sklavin allerdings durchkreuzt wird. Die konventionelle Tischordnung, die die übliche Genderhierachie reflektiert, wird hinterfragt und verkompliziert durch die Missachtung schicht- und race-basierter Hierarchien. Mrs. Garie fungiert hier als Dame des Hauses, als plantation mistress sogar, eine Machtposition, die der gesellschaftlichen Ordnung, die weder für Bedienstete noch für Sklavinnen und Sklaven einen Platz am Tisch bereithält, widerspricht.  Auch ihre Kinder – wie die Mutter Sklaven – stören die übliche gesellschaftliche (Tisch-)Ordnung (…). Dass Webb die üblichen Rangordnungen und Annahmen über die Minderwertigkeit ‚nicht-weißer‘ Bevölkerungsschichten mit Hilfe esskultureller Konventionen und deren Durchbrechen zeigt, deutet darauf hin, welch wichtige Rolle das Essen über die bloße Nahrungsaufnahme hinweg in Gesellschaften einnimmt.

aus: Nicole Maruo-Schröder, „A Family of Peculiar Construction“. Tisch-(Un-)Ordnungen in Frank J.  Webbs ‘The Garies and Their Friends’, Bulletin Esskulturen, Mappe 1, Tisch-Ordnungen, Faszikel 4.