Prof. Dr. Christian Geulen zum “Sturm” aufs Capitol:
Es hatte ja fast etwas von einer Revolution oder Revolte, was am Dreikönigstag in Washington geschah: Das Volk stürmt das Symbol der Macht, um sie zu stürzen. Es gibt Darstellungen des Sturms auf die Bastille am 14. Juli 1789, die nicht ganz unähnlich aussehen. Doch war die Bastille nur ein Symbol für die absolutistische Macht, die es zu stürzen galt (faktisch saß bei ihrer Erstürmung nur eine Hand voll politischer Gefangener ein), während das Capitol in Washington tatsächlich der Sitz des politischen Souveräns ist: des amerikanischen Volkes. Das ‚Volk‘ – we the people, wie es auf unzähligen Bannern zu lesen war – stürmte hier also sein eigenes Haus. Darin liegt vielleicht der absurdeste Aspekt des Ganzen.
Wenn es also keine Revolution oder Revolte war, dann war es ein Aufruhr oder Aufstand: insurrection. So die einhellige Meinung aller Demokraten, der meisten Republikaner und auch der meisten Journalisten. Und ein Aufruhr ist illegitim, gewaltsam, nicht zu rechtfertigen. Dennoch: Demokratien, die – anders als die deutsche – in blutigen Revolutionen entstanden, haben strukturell Schwierigkeiten, einen Aufstand des Volkes aus der Tradition von Volksaufständen, denen man nationale Feiertage widmet, herauszurechnen (Frankreich kann davon ein Lied singen). Dem kann man nun entgegenhalten, dass es doch am 6. Januar gar nicht das Volk war, sondern nur eine Gruppe von 30.000 fanatischen Trump-Anhängern. Neben diesen ‚fanatischen‘ Anhängern gibt es aber noch 74 Millionen ‚normale‘ Anhänger – fast die Hälfte der wählenden Bevölkerung. Eine solche Zustimmungsquote hatten die Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung von 1776 zunächst keineswegs.
Also doch eine Revolution? Also doch der nächste amerikanische Bürgerkrieg? Die Geste, mit der viele amerikanische wie europäische Beobachter diese Option bei Seite schieben, ist der Verweis auf den Führer, der an allem schuld sei. Trump habe den Mob erst aufgestachelt und zum Capitol geschickt, Trump habe systematisch die Lüge vom Wahlbetrug verbreitet, Trump habe es geschafft, mit wenigen Worten einen Teil seiner Anhänger zu fanatischen Anhängern zu machen, ihnen über Wochen die entsprechenden Verschwörungstheorien geliefert und letztlich versucht, einen echten Putsch anzuzetteln. Viele Beobachter wiederholen diese These vom fatal unterschätzten Trump, der bei aller Plumpheit ein gewiefter Machtpolitiker sei und auch vor illegalen Methoden des Selbsterhalts nicht zurückschrecke. Und jetzt schon wird das Bild einer Zukunft gezeichnet, in der Trump auch als Ex-Präsident weiter die Geschicke Amerikas beeinflussen, wenn nicht gar lenken könnte.
Kann aber ein Mann 74 Millionen Menschen manipulieren? Nach 1945 haben die meisten Deutschen eben das behauptet: Der Führer hat uns verführt. Wir wollten das alles nicht, aber er hat uns auf teuflische Weise dazu gebracht. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass es nicht so war: dass Hitlers Stellung im Dritten Reich so unantastbar wie zugleich weit weniger effektiv war als lange angenommen; und dass es nicht zuletzt das freiwillige Mitlaufen und Mitmachen war, das die Gewaltspirale der NS-Politik in Gang hielt.
Auch Trump ist wohl eher Projektionsfläche als politischer Master-Mind. Doch was wird auf ihn projiziert? Welche Ängste, welche Erwartungen und welche Werte sehen diejenigen in ihm verkörpert, die ihn wählen und seiner Botschaft folgen: Make America great again? Trump hat das anfänglich vor allem ökonomisch gemeint. Seine Anhänger aber treibt diese Botschaft jetzt dazu, die Institution ihrer eigenen Souveränität zu stürmen. Ist das nicht doch so etwas wie eine Revolution von rechts? Auf welche Weise hat sich das Programm, Amerika wieder groß zu machen, zu diesem inneren Umwälzungswillen entwickelt? Jeder anständige Präsident vor Trump hätte dafür irgendwo auf der Welt einen Krieg geführt oder zumindest ein paar militärische Interventionen befohlen. Unter Trump aber wurde der Wille zur neuen Größe Amerikas zum Willen, das eigene Haus zu säubern: von Liberalen, ‚Sozialisten‘ und viel zu lauten Minderheiten.
Die vielzitierte politische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft ist ganz sicher nicht Trumps Erfindung. Amerika ist gespalten, seitdem es eine neue Nation erfand, indem es die eigene rauswarf. Und dieser innere Bruder-Konflikt wiederholte sich vom Bürgerkrieg über die imperiale Phase oder die McCarthy Ära bis zum Vietnamkrieg und zur Civil Rights Bewegung. Neu ist allerdings, dass sich diese Spaltung vertikal auszurichten beginnt. Neben die alte Frage, wer zu Amerika gehört und ein Recht auf den amerikanischen Traum hat und wer nicht, tritt die Frage, wer diesen Traum überhaupt formulieren, definieren und repräsentieren darf. Die populistische Unterscheidung zwischen betrügender Elite und betrogenem Volk liegt quer zu den überwölbenden Bildern der „City upon a Hill“ oder der integrierenden Formel „e pluribus unum“ des amerikanischen Exzeptionalismus. Die Suche nach dem richtigen Weg zur Erfüllung des amerikanischen Schicksals droht abgelöst zu werden vom Kampf um die Macht, dieses Schicksal überhaupt zu bestimmen.
Nicht Trumps konkrete Ansichten über Amerika oder die Welt haben das befeuert, sondern vor allem sein Bruch mit den Gepflogenheiten und Traditionen der amerikanischen Politik. Seine Weigerung etwa, in der Amtseinführungsrede die Verfassung oder auch nur einen der Gründerväter zu zitieren, stellt einen größeren Bruch mit dem amerikanischen System dar als der absurde Plan, eine Mauer an der mexikanischen Grenze zu errichten. Doch wie intendiert war dieser Bruch mit der amerikanischen Tradition? War er der Beginn eines Masterplans zum Erhalt der eigenen Macht? War Trumps Dauer-Getwitter Teil einer Strategie der Massenmanipulation? War seine Leugnung der Wirklichkeit politisches Kalkül? Oder kennt er, als multimedialer Multimillionär, schlicht keine andere Vermittlungsform als PR und Propaganda? Wer die Naivität und Unbeholfenheit bemerkt, mit der Trump agiert, wenn er mal bewusst staatsmännisch aufzutreten versucht, kann hier – wenn man nicht auch das noch als Kalkül werten will – keinen cleveren Machpolitiker ausmachen. Eben dann aber muss umso mehr danach gefragt werden, wie es das Phänomen Trump geschafft hat, Millionen Amerikaner in seinen Bann zu ziehen und wie aus gestammelten Worthülsen Motive wurden, die amerikanische Demokratie selbst in Zweifel zu ziehen und ihren zentralen Ort anzugreifen.
Die sich damit aufdrängenden Fragen, was die Demokratie im 21. Jahrhundert eigentlich noch zusammenhält, woher das Bedürfnis kommt, sie neu zu erfinden und neu zu denken und wie die demokratische Ordnung ebenso wie ihre derzeitige Anfeindung den Menschen eigentlich vermittelt wurden und werden, das ist nicht nur mit Blick auf Amerika ein zentrales Thema des 21. Jahrhunderts – auch und gerade für die Kulturwissenschaften. Der Fachbereich 2 bereitet derzeit den Antrag auf ein DFG-Graduiertenkolleg mit dem Arbeitstitel „Kulturen der Vermittlung“ vor. Dabei wird es nicht zuletzt auch um die Formen und Grenzen der Vermittlung von Demokratie gehen. Denn wenn das Phänomen Trump und die Ereignisse in Washington eines zeigen, dann die Tatsache, dass die Demokratie keine selbstevidente Ordnung darstellt, sondern gerade heute davon abhängt, wie und als was sie vermittelt wird. Und dabei geht es um weit mehr als nur um das Verhältnis von Sender und Empfänger oder Gezwitscher und Gefolgschaft.