Laudatio auf unseren Ehrendoktor Wolf Biermann

Lange musste der Fachbereich Philologie/Kulturwissenschaften auf den Besuch seines neuen Ehrendoktors warten, nun war es am 18. Mai 2022 endlich so weit: Wolf Biermann war zum Konzert an den Campus gekommen. Die Universität Koblenz-Landau hat dem Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann im Jahr 2020 die Ehrendoktorwürde verliehen, aufgrund der Corona-Pandemie mussten die Feierlichkeiten für Biermann und sein Konzert jedoch damals abgesagt werden. Nun folgten rund 270 Gäste, die teils sogar aus Berlin angereist waren, der Einladung der Universität und waren zur Festveranstaltung für und zum Liederabend mit Wolf Biermann gekommen.
Prof. Dr. Stefan Neuhaus, Initiator der Ehrendoktorwürde für den Künstler, betonte in seiner Laudatio, die auf das Schaffen des Künstlers zurückblickte, die Kraft der Biermann’schen Lieder, die die Zuhörer:innen an diesem Abend noch spüren sollten. Diese Laudatio geben wir hier im Wortlaut wieder:

“Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, lieber Wolf Biermann,

hier steh ich nun, ich armer Tor, und bin so sprachlos wie selten zuvor. Was ist zu sagen angesichts einer Person, die längst zu einem lebenden Denkmal geworden ist? Wie ist ein Mensch zu adressieren, dessen Vater Dagobert von den Nazis ermordet wurde, so wie Millionen anderer Jüdinnen und Juden, ein Vater, der, weshalb er für den jungen Wolf auch Vorbild war, als überzeugter Kommunist gegen das System kämpfte, das ihn umbrachte?

Das und vieles andere gehört zum Rucksack des Mannes, der selbst Unglaubliches erlebt hat – der mit seiner Mutter knapp dem Hamburger Feuersturm entkam und der sich dann anschickte, 1953 aus dem Westen in den Osten wandernd, erstens den alten Monarchie- und Nazistall wie Herkules mit dem eisernen Besen auszumisten, der sich in seinen Händen in eine Drahtharfe verwandelte, und zweitens eine Gesellschaft mit aufzubauen, die endlich Lehren aus der Geschichte gezogen haben würde.

Dass der seinerzeit überzeugte Sozialist und Idealist dabei zunehmend auf taube Ohren bei denen stieß, die den Sozialismus in der Theorie propagierten, um in der Praxis als Bessergestellte unter Gleichen, als Schweine unter den Tieren (wie George Orwell es in Animal Farm allegorisch dargestellt hat), ihre Privilegien umso sorgloser genießen zu können, auch davon künden Wolf Biermanns Lieder, etwa seine Balla-de „An die alten Genossen“. In der Tradition Heinrich Heines, François Villons und Bertolt Brechts stehend, schlug er den Bossen der Genossen, stilsicher die traditionellen Stile brechend und mit ungeheuer viel Witz, ihre Fehleinschätzungen um die Ohren.

Dabei setzte Wolf Biermann alles ein, was er hatte, also auch sich selbst. In und mit seinen Liedern, die unzähligen und unzählbaren Menschen Mut machten und die im besten Sinne Lebenshilfe waren, meldet sich immer wieder ein lyrisches Ich oder ein Erzähler zu Wort, der wie Brechts Baal selbstbewusst sein Leben lebt, im Hier und Jetzt und mit allem, was dazugehört – Liebschaften, gutes Essen, hochprozentige Getränke und nicht zuletzt hochprozentige Gespräche. Der Sänger Wolf Biermann formte sich im Laufe der Jahre selbst zu einer Figur, die beispielhaft vorführt, wie Individualität gelebt werden kann, und zwar von allen, nicht nur von einigen, also nicht nur von den gleicheren Schweinen auf dem gemeinsamen Bauernhof. Auf eins achtete er immer ganz genau: Das Blatt, von dem er spielte und las, nahm er dabei nie vor den Mund.

Die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Jahre 1976 ist für ihn persönlich ein harter Einschnitt, sie trifft ihn tief; und sie ist ein zeitgeschichtlicher Wendepunkt, der in eine Reihe mit allen bedeutsamen Wendepunkten und Daten der deutschen Geschichte gehört. Nicht nur Wolf Biermann, sondern wir alle, die wir hier stehen, wir wären wohl nicht so, wie wir geworden sind, hätte es diese Ausbürgerung nicht gegeben. Sie war der Anfang vom Ende der DDR, sie war der Vorbote von 1989. Mit ihr verloren alle Intellektuellen, die nicht restlos verblendet waren, das Vertrauen in eine Reform des Sozialismus im anderen Deutschland. Und das war entscheidend, denn die Intellektuellen waren die einzige wirksame Opposition in der Öffentlichkeit, weil sie wussten, wie sie der Zensur ein Schnippchen schlagen konnten. Manfred Krug hat in seiner Teilautobiographie Abgehauen skizzenhaft geschildert, welche Wirkung gerade dieser Akt der staatsmächtigen Ungerechtigkeit, auch wenn er einer von vielen war, tatsächlich gehabt hat.

Wolf Biermann wäre aber nicht er selbst, wenn diese Zäsur ihn daran gehindert hätte, sich zu ändern, um sich treu zu bleiben. Der Kritiker der Auswüchse des Sozialismus war natürlich immer schon auch Kritiker der Auswüchse der Marktwirtschaft – nun verschoben sich die Gewichte. Auch wenn, im polyphonen, weil nicht durch offensichtliche politische Zensur eingeschränkten Konzert der Intellektuellen im Westen, seine Stimme nun weniger deutlich zu vernehmen war als im Osten, so darf man ihre Bedeutung nicht unterschätzen. Als Meister der Form – auf ihn soll ja überhaupt der Begriff des Liedermachers zurück-gehen – und mit allen Wassern von Elbe, Spree, Rhein und vielen anderen Flüssen oder auch Meeren gewaschen dichtete und sang er weiter und verkörperte, was man bei ihm stets auch wörtlich verstehen kann – das Verkörpern, meine ich, den von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu so benannten ‚linken Intellektuellen‘ par excellence. Wolf Biermann kennt nur den ganzen Einsatz für die nicht nur aus seiner Sicht richtigen Werte und ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich eine solche Haltung immer schon bewundert habe und weiterhin bewundere.

Die große Figur der westdeutschen Nachkriegsliteratur, wenn man so will: der sozialdemokratische Bundeskanzler dieser Literatur war Günter Grass, dessen Verdienste sich zwar durch das Verschweigen und späte Bekenntnis seiner Mitgliedschaft als 17jähriger in der Waffen-SS rückblickend etwas eingetrübt haben, aber dennoch historisch und literaturgeschichtlich wohl außer Frage stehen. 1999 erhielt Grass den Nobelpreis für Literatur. 2016 bekam diesen Preis der US-amerikanische Liedermacher Bob Dylan, sicher zurecht. Lieder gehören zur Lyrik und somit ganz selbstverständlich auch zur Literatur – wes-halb das jemals angezweifelt worden ist, habe ich nie verstanden. Doch wenn wir diese beiden Preisträger nehmen und dann Wolf Biermann dazu, dann finde ich, dass er mit noch größerem Recht den Nobelpreis verdient hätte, vielleicht auch zwei mit dem Friedensnobelpreis. Mir fällt kein Poet ein, der eine vergleichbare Wirkung gehabt hätte und dessen Texte zugleich so innovativ und ästhetisch überzeugend wären. Mit seinen Liedern hat er ganz erheblich dazu beigetragen, eine reale, zwei Staaten trennende Mauer einzureißen. Wer eine Literatur sucht, die ästhetische Ansprüche und gesellschaftliche Wirkung bruchlos mit-einander in Einklang gebracht hat, dann muss sie oder er nur die Lieder Wolf Biermanns lesen oder hören.

Seine Lieder haben sicher auch zu einer gerechteren, würdevolleren, allen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gleiche Chancen bietenden Gemeinschaft beigetragen, ohne dass hierfür ein empirischer Nachweis geführt werden kann und auch, wenn der Zustand der Welt immer noch und wieder mehr als vorher zu wünschen übrig lässt. Gerade weil, wie der Blick in die Nachrichten zeigt, nichts als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, sind Wolf Biermanns Lieder wichtig, ich würde sogar sagen: unverzichtbar, und gerade deshalb ist eine Gelegenheit wie diese gut, darauf aufmerksam zu machen.

Der manchmal schmeichelnde, manchmal rotzfreche Ton ist nicht gealtert, das werden wir gleich hören. Eher im Gegenteil – vielleicht braucht unsere Gesellschaft solche Lieder wieder mehr als in den letzten 20 Jahren, in denen sie es sich, selbstgefällig, selbstgerecht und behäbig, auf dem Sofa gemütlich gemacht hat.
Wolf Biermann hat 2008 den Ehrendoktor der Humboldt-Universität zu Berlin erhalten, auch als Korrektur eines historischen Fehlers – er durfte seinerzeit, als politische Maßregel, sein Philosophiestudium nicht fortsetzen. Eigentlich hätten die Kölner ihm einen Ehrendoktor im ehemaligen Westen verleihen müssen, denn dort gab er 1976 sein legendär gewordenes Konzert. Vielleicht passt es aber auch ganz gut, dass die etwas südlich gelegene kleine Universität Koblenz, die noch ein siamesischer Zwilling mit Landau ist und in den kommenden Jahren allein laufen lernen muss, den Kölnern zuvorgekommen ist (denn was nicht ist, kann ja noch werden!). Denn auch wenn Wolf Biermann in seiner Rolle stets Klartext redet, um ihn selbst geht es ihm dabei eigentlich nie.

Die 2016 veröffentlichte Autobiographie mit ihrem programmatischen Titel: Warte nicht auf bessre Zeiten! Ist denn auch nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument und ein großes Lesevergnügen, sondern zu-gleich ein Dokument der Bescheidenheit. Anders als andere Berühmtheiten in ihren Autobiographen betont Wolf Biermann die Brüche in seinem Leben und lässt einen Blick zu hinter die öffentliche Persona, der zeigt, dass er ein ausgesprochen emphatischer und sensibler Mensch ist, der diese seine historische Rolle angenommen hat, weil er gesehen hat, dass er so etwas bewirken kann – und der aus dem Staunen über das, was er bewirken konnte, nie herausgekommen ist.

Zwei Kollegen aus der Literaturwissenschaft, Christoph Jürgensen von der Universität Bamberg, den ich hier unter uns sehr herzlich begrüße, und Helmuth Kiesel von der Universität Heidelberg, der aus gesundheitlichen Gründen heute verhindert ist, haben den Antrag, Wolf Biermann mit der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Philologie/Kulturwissenschaften der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, auszuzeichnen, in ausführlichen Gutachten erörtert und sind zu dem Schluss gekommen, dass der Antrag ein eindeutiges Ja verdient.
Christoph Jürgensen hat an die „Debatte […] anläßlich der Vergabe des Büchner-Preises an Wolf Biermann im Jahr 1991“ erinnert und, mit Hinweis auf den Nobelpreis für Bob Dylan, „die überzeitliche Gültigkeit“ der Texte Wolf Biermanns hervorgehoben. Helmuth Kiesel hat Wolf Biermann eine „multimediale Autorschaft“ attestiert und festgehalten, dass er „eine Größe“ sei, „die eine Ehrung dieser Art zweifellos verdient hat.“ Er sei „als ‚politischer Liedermacher […] ein Lyriker, der sein Dichten nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch und kommunikativ in einem außerordentlich hohen Maß reflektierte und dies auch durch eine Vielzahl von entsprechenden Äußerungen zur Kenntnis brachte“, etwa in seinen Düsseldorfer Poetikvorlesungen, die 1997 unter dem Titel Wie man Verse macht und Lieder: eine Poetik in acht Ge-sängen im Druck erschienen sind und auf die auch Jürgensen in seinem Gutachten hinweist. Kiesel hebt, wie übrigens auch Jürgensen, außer-dem eine in der Öffentlichkeit vielleicht weniger bekannte Arbeit her-vor, „die einen Doktortitel einer Fakultät für Philologie und Kulturwissenschaft verdient: Es ist die eindrucksvolle und zurecht vielfach gerühmte Übersetzung von Jizchak Katzenelson „Lied vunem ojsgehargetn jidischn volk / Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ – : eine kulturelle und philologische Leistung von Rang und kulturpolitischer Bedeutung“.

Der Fachbereich hat dem Antrag zugestimmt und wir sind froh und dankbar, dass Wolf Biermann diese Auszeichnung freudig angenommen hat, denn eine solche Würdigung wirkt immer in zwei Richtungen – unsere kleine, künftig selbständige Universität kann sich vielleicht noch mehr damit schmücken als der vielfach ausgezeichnete Autor und Liedermacher. Lieber Wolf Biermann, wir sind froh und dankbar, dass Sie heute hier sind und dass wir mit Ihnen diese Auszeichnung feiern können!”


Foto: Julian Häuser