Ein Beitrag von Jana Katharina Schmitz.
Umbrüche sind allgegenwärtig. Es handelt sich dabei um komplexe, instabile, hochdynamische und zeitlich begrenzte Phasen, die alle Bereiche des individuellen Lebens und der gesamten Gesellschaft betreffen. Was meist im Kleinen unscheinbar und verborgen beginnt, ist letztendlich Anstoß für einen oftmals alles verändernden Transformationsprozess.
Am Freitag, den 25.02.2022, eröffnete die Tagung „Umbrüche – Transformationsprozesse in Europa“ einen produktiven Raum für einen interdisziplinären Austausch. Das Thema dieses digitalen Workshops stellt auf Grund der historischen Dimension und einer immerwährenden brisanten Aktualität einen elementaren Ausgangspunkt für eine vieldimensionale wissenschaftliche Betrachtung dar. So befindet sich die Universität Koblenz-Landau selbst in einer markanten Umbruchphase. Mit der bevorstehenden Eigenständigkeit der Universität Koblenz ab Januar 2023 liegt ein Schwerpunkt des neuen Profils auf der interdisziplinären Zusammenarbeit. Genau dieser Gedanke inspirierte die beiden Organisatorinnen, Sarah Schäfer-Althaus aus dem Institut für Anglistik und Amerikanistik und Michaela Bill-Mrziglod als Vertreterin des Instituts für Katholische Theologie im Fach Kirchengeschichte, sich gemeinsam, historisch und fachübergreifend dem Thema „Umbrüche“ zu widmen. Auch in der Gesellschaft erleben wir aktuell einschneidende Umbrüche durch den Krieg, die Pandemie und den Klimawandel. Der omnipräsente Ruf nach Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit war Anlass für die Entscheidung einer rein digitalen Veranstaltung.
Die Tagung fokussierte auf den Zeitraum zwischen 1450 und 1830 und untersuchte Umbrüche unter den Aspekten Stand, Beruf(ung), Geschlecht und Körperlichkeit. Ausgangspunkt bildeten die Forschungsfragen nach den kulturellen und geographischen Gemeinsamkeiten, Unterschieden aber auch Abhängigkeiten von Umbruchsprozessen. Darüber hinaus waren auch Muster und Auslöser von individuellen wie kollektiven Transformationsprozessen und Maßnahmen, durch die solche Prozesse beeinflusst werden, von Interesse. Zu Vortragsthemen zählten der Bedeutungswandel von Sprache als Spiegelbild gesellschaftlicher Vorurteile (Anke Lensch, Koblenz), die asketischen Transformationsräume in der frühen Neuzeit (Michaela Bill-Mrziglod, Koblenz) und die Mariendarstellung der Karmelitin Maria Maddalena de‘ Pazzi (Alessandra Bost, Saarbrücken). Die zweite Hälfte der Tagung war gefüllt mit dem Wandel in der Erziehung der Frau zur Zeit der Spätaufklärung (Stephanie Vochatzer, Karlsruhe), mit Ausführungen zu „Choreographien des Transitorischen“, d.h. zu dem Motiv des Tanzes bei Goethe und Eichendorff (Yvonne Al-Taie, Kiel) und mit den Umbrüchen der Moderne im Roman „Ennui“ der irischen Schriftstellerin Maria Edgeworth (Raphael Zähringer, Tübingen).
Es zeigte sich, dass Umbrüche ein Grundphänomen individueller und kollektiver Existenz bilden. Transformationsprozesse passieren nie isoliert, sondern immer in großen, kaum fassbaren Zusammenhängen. Ein Puzzle kollidierender und interaktiver Veränderungsprozesse, die sich zugleich beschränken und bereichern, lässt sich deshalb nur in einem interdisziplinären Austausch greifbar machen. Die Diskussion von Soziologie, Linguistik, Literaturwissenschaft und Kirchengeschichte konnte auf der Tagung fachspezifische Grenzen öffnen und so den Blick für große und bedeutungsschwere Zusammenhänge von Transformationen im europäischen Raum weiten. Um einer komplexen, verschränkten und konfliktgeladenen Umbruchszone zwischen Mensch, Geschichte, Kultur und Welt näherzukommen, braucht es genau dieses wertvolle Zusammenspiel der wissenschaftlichen Disziplinen.
Mit Umbrüchen ist immer auch Chaos verbunden. Unordnung wird gestiftet durch sich verändernde semantische Bezüge sowie Unklarheiten von Position, Status und Identität in spezifischen sich wandelnden Systemen. Vergleichbar ist dieses Phänomen mit der literarischen Zeichnung der bewussten oder unbewussten Verirrung von Schritten in einem gesellschaftlich tradierten Tanz, denn ein Umbruch zieht immer zugleich ein Wegbrechen von Bekanntem und einen Anbruch von etwas Neuem mit sich. Er beginnt, ohne jemals abgeschlossen zu sein, da Ideale, Visionen und Ziele in diesem großen und komplexen Zusammenhang immer Grenzwerte sind, die sich einer vollendeten Lösung entziehen und somit in der Schwebe des „schon jetzt und noch nicht“ stehen. Verstärkte Normierungen und Reglementierungen stellen hierbei retardierende Momente in einem nach vorne drängenden Prozess dar. Die untergeordnete, determinierte Rolle der Frau, die in allen Beiträgen sichtbar wurde, ist auf der einen Seite eine solche Beschränkung, da sie die Handlungsfreiheit limitiert, auf der anderen Seite verursacht gerade dieses Ungleichgewicht eine alles verändernde Dynamik, die es braucht, um große Transformationen ins Rollen zu bringen.
Diese nach Veränderung strebende Spannung findet Ausdruck in Sprache als dem kulturellen Fundament, im Körper als Projektionsfläche gesellschaftspolitischer und religiöser Performanz, in der Erziehung und den Tugendidealen als Zeugnisse für Menschen- und Weltbilder und besonders in der Literatur, die es vermag, diese kaum fassbaren Prozesse in gewaltigen Sprachbildern zu äußern. Möglichkeiten für Transformation bieten dabei oft unsichere Räume, die durch unklare Verhältnisse charakterisiert sind. Die bleibenden Fragen nach der Erinnerung von Geschichte und Umbrüchen, nach Kontinuitäten und Interdependenzen, nach der Notwendigkeit bzw. dem Preis von Transformationen, nach den Ursachen der Pejorisierung von Sprache und nach dem sich bedingenden Zusammenhang von individuellen und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen bilden damit den Grundstock für weitere polyperspektivische Diskussionen im kommenden Oktober, in dem sich ein zweiter Workshop den Umbrüchen und Transformationsprozessen von ca. 1830 bis heute widmen wird.
__
Kontakt: Dr. Michaela Bill-Mrziglod (billmrziglod@uni-koblenz.de), Dr. Sarah Schäfer-Althaus (salthaus@unikoblenz.de)